Vielen Dank an alle, die mir bisher Feedback zu den vorherigen zwei Artikeln gesendet hatten. Insgesamt ist es nicht ganz so einfach, einen kompletten Musikstil in seiner Entwicklung über fast 60 Jahre hinweg abzubilden und nachzuvollziehen, da sind also sicher noch Lücken vorhanden.
Aber Euer Feedback war zu 99% positiv, sodass ich denke, dass sich die Arbeit gelohnt hat. Mir selbst hat es auch Spaß gemacht, mich da tiefer einzuarbeiten.
Hier kommt nun der dritte und abschließende Teil, der sich mit den letzten 10 Jahren und der Aufspaltung in 2-3 Musik und Tanzstile beschäftigt. Diese Entwicklung ist noch lange nicht beendet und ich bin gespannt, wie wir diese Phase in 5-10 Jahren bewerten werden.
Übrigens: Zum Thema "Bachata" hatte ich im letzten Jahr schon einen Blogartikel geschrieben. Ihr findet ihn hier: Bachata Quo Vadis - wie wird es mit Bachata sensual weitergehen?
5. Die fünfte Phase (ca. 2010 - heute): La Formula, Pop, Remixe und Bachata Sensual
2009 trennten sich Aventura auf dem Höhepunkt ihres Erfolges, nach einer Abschieds-CD und einer Abschiedstour. Der Grund war eine von Henry Santos geplante Solo-Karriere. Ein großer Fehler, wie die folgenden Jahre zeigten. Als sich Aventura 2009 auflösten, war Bachatamusik international schon wieder stark im Rückzug.
Wie sollte es weitergehen? In den Clubs wurde zum Ende des ersten Jahrzehntes relativ wenig Bachata gespielt. Man war zum Teil in Europa der Meinung, dass sowohl Tanz als auch die Musik an eine Grenze gekommen ist und nicht wenige waren von der wenig variationsreichen Musik gelangweilt. Nach vielen Jahren des "traditionellen" Bachatas gab es wenig Neues zu entdecken. Typischerweise wurden auf Partys zu dieser Zeit (bis ca. 2011) alle 30min mal 1-2 Bachatas gespielt.
Grupo Extra machte schon vorsichtige Experimente, die Bachatamusik zu modernisieren, blieb aber meiner Meinung nach, dabei zu zaghaft.
Zwei Ereignisse - große Auswirkungen
Nun gab es zwei Ereignisse, welche meiner Meinung nach alles änderten und so nicht nur Bachata retteten, sondern im Grunde massiv für die heutige Popularität verantwortlich sind:
1. Korke und Judith erfinden Bachata Sensual
Korke Escalona und Judith Cordero erfanden schon Mitte der 2010er in Cadiz den Bachata Sensual Tanzstil (auch wenn sie damals den Begriff nicht verwendeten, sondern u.a. R-Style) indem sie die die fortlaufenden (Kreis-)Bewegungen des Jazz- und Moderndance in den Bachata integrieren konnten. Korke und Judith erzählten mal einem Bekannten, dass sie sich damals fragten, wie man die Jazzdance-Bewegungsarten ansatzweise führen kann. Ihre Lösung war, dass sie ein System entwickelten, wie man zum Beispiel Körperteil blockt und gleichzeitig ein anderes aus der Mitte herausgeführt wird, so dass daraus eine von außen geführte Kreisbewegung wird.
Oft liest man auch, dass Zouk eine der Inspirationen für die beiden waren, aber tatsächlich war dies weniger der Fall. Zwar nutzen Bachata wie Zouk gewisse Kreislogiken und sicher fließen immer Moves anderer Tanzlehrer und Tänze mit ein, aber der dominierende Einfluss für Korke und Judith ist eher der Jazz- und Moderndance.
Eine weitere Besonderheit der beiden ist, dass sie eine viel stärkere Interpretation der Musik durch den Tanz integrierten. Korke und Judith haben ein unerschöpfliches Potential an Kreativität gehabt und so im Grunde einen neuen Tanz geschaffen. Sicher, es waren immer auch andere beteiligt und jeder schaut bei anderen ab, aber ihre Leistung ist unschätzbar.
Hier ein paar ältere Videos von Korke und Judith: 2009, 2010, 2011.
Jorge Ataca und Tanja Kensinger "Alemana" haben schon früh begonnen, den Tanz "Bachata" zu erweitern. Sie hatten mit ihrer Bachata-Show 2008-2009 sehr viel Erfolg und Aufmerksamkeit und das Youtubevideo zu Xtremes "Te Extrano" dann einen viralen Interneterfolg, welcher ihre Popularität enorm steigerte. Zu dieser Zeit hatten sie übrigens auch noch viele Salsashows getanzt.
Ihr Bachata war schon definitiv "Sensual", hatte aber auch sehr viele Elemente des typischen Bachata der 2000er Jahre. Meiner Meinung nach sind Korke und Judith kreativer und radikaler beim Modernisieren gewesen, aber gerade anfangs hatten sie weniger internationalen Erfolg als Ataca und Alemana .
Jeder fand nun diesen neuen Stil des Bachata super und plötzlich wollten alle so tanzen wie die beiden genannten Paare. Schnell entwickelten sich viele weitere neue Moves und eine neue Philosophie des Tanzes. Ein neuer Tanz war geboren. Eine Besonderheit war sicher auch, dass die Figuren zum Teil eine hohe Beweglichkeit voraussetzten, sodass vor allem Jugendliche und junge Tänzer als neue Zielgruppe gewonnen wurden.
Daniel und Desiree gewannen dann 2012 mit den neuen Moves die Weltmeisterschaft und von da an war der "spanische" Bachata weltweit begehrt.
2. La Formula Vol 1 & Vol 2. - die meistverkauften Latin-Alben
Wie gesagt, zwei Ereignisse haben Bachata wiederbelebt. Neben dem neuen Tanz gab es 2011 musikalisch eine kleine Revolution! Eine komplette Erneuerung der Bachatamusik durch den ehemaligen Sänger von Aventura, Romoeo Santos. Er machte nach der Trennung von Aventura eine kurze kreative Pause und entschied als Solokünstler weiterzumachen. Er veröffentlichte 2011 "La Formula Vol1", welches die Bachatamusik komplett modernisierte. Er verwendete alle klassischen Instrumente, aber nährte sich melodisch eher amerikanischer Chartmusik an. Mit Hits wie "Promise" wurde Bachata nun verstärkt mit Pop- und RnB-Elementen gemischt. Dazu begann er mit vielen US-amerikanischen Stars Kooperationen einzugehen. Moderne Sounds, zum Teil mit Computerbeats und Basseffekten unterstützten nun den Bachata.
"La Formula Vol 1" wurde eine der meist verkauften Latin-CDs überhaupt und lieft über viele Jahre in allen Clubs. Selbst heute hört man die Stücke noch sehr gerne.
Dazu muss man sagen, dass Romeo Santos sehr gute Komponisten für seine ersten beiden Soloalben (2011 "La Formula Vol. 1" und 2013 "La Formula Vol. 2") hatte. Die Titel sind allesamt sehr eingängig und dennoch nicht simpel.
Romeo Santos hält vier Guinnessbuchrekorde
Wie wichtig der Erfolg und wie stark der Einfluss von Romeo Santos als Solist ist, zeigen nicht nur die enormen Klickzahlen auf Youtube, sondern auch Patzierungen der Charts. Besonders wichtig sind hier die US-amerikanischen Billboard-Latin-Charts (Tropical-Charts)
- Romeo Santos führte die Jahresliste der meist verkauften Alben insgesamt fünfmal an: 2012, 2014, 2015, 2017 und 2018.
- In den letzten fünf Jahren (also 2014-2019) führte er die gleichen Charts dreimal an.
- Sein Stück "Propuesta Indecente" ist das Stück, was am längsten in den wöchentlichen Charts auf Platz 1 platziert war (vom 10. August 2013 bis 26. Dezember 2015)
=> 125 Wochen Platz 1. Bei Youtube alleine waren es im November 2019 ca. 1,6 Milliarden Views. - Seit 2019 ist Romeo Santos der meist verkaufte tropische Solist aller Zeiten (vor allem dank seiner ersten drei Soloalben).
Bachata lebt - die Kontroverse auch
Der unglaubliche Erfolg von Romeo Santos sollte natürlich Spuren hinterlassen. Immer mehr Artisten versuchten nun diesen Sound zu imitieren und neue Fusionen zu finden. Es entstand immer mehr eingängige, auch stark "verpoppte" Musik. Dazu wurde auch der Tanz "Bachata Sensual" immer populärer. In Spanien bereits seit 2010, in Deutschland "brach der Damm" erst so ab ca. 2015, also relativ spät. Nun waren aber auch auf vielen Kongressen die größten Räume oft für Bachatakurse und Stars wie Korke & Judith sowie Daniel & Desiree reserviert. Tanz und Musik wurden auf ein neues Niveau gehoben. Schnell entstanden erste reine Bachatakongresse wie Bachaturo oder Sobretodo Bachata uvm.
Das passte vielen aber auch nicht, weil sie den neuen Tanz und die neue Musik als zu weit entfernt von den Wurzeln empfanden. Es stinkt auch nach wie vor vielen traditionellen Tänzern, darunter nicht wenigen älteren, dass nun Europäer sowohl die Musik und vor allem den Tanz modernisierten. Dazu waren viele der Figuren für die Älteren schwer zu lernen, da sie sehr viel Flexibilität und Körperkontrolle erforderten.
Spitzenbachata aus Deutschland: Janis und Zoe 2019
Es kam zu einer Aufspaltung, die bis heute offene Gräben zwischen den Fraktionen des Bachata zu Folge hat (Bachata tradicional, sensual, moderna/fusion).
Die Musik - die Remixe
Neben Romeo Santos wurden ab 2010 auch viele neue (und auch ein paar ältere) Künstler sehr bekannt, die zum Teil Romeo kopierten, aber auch versuchten, eigene Fusionen zu kreieren (wie z.B. Toby Love (schon 2006 mit seinem ersten Album) oder Dustin Richie). Zu den bekanntesten neuen Artisten gehören: Dani J, Ephrem J, Kewin Cosmos, Prince Royce, Joel Santos, Daniel Santacruz uvm.
Diese neue Generation der Bachateros ist international, denn nicht mehr alle wurden in der Dominikanischen Republik geboren.
Ab ca. 2009 kamen schon die ersten Remixe heraus, welche oft angelsächsische Popmusk mit Bachatarhythmen unterlegten und so dem Latinpublikum eine neue Musik vorstellten. Als sehr frühen Remix gab es schon 2009 den wirklich tollen Song von Sarah Connor - From Sarah with Love, oder 2013 von DJ BerGi "Stay With Me von Madilyn Bailey". Während es in den ersten Jahren nur sehr wenige DJs gab, die sich da rantrauten, waren doch auch viele DJs von den Cluberfolgen dieser Remixe erstaunt. Nach und nach kamen mehr DJs hinzu, die begannen Remixe zu erstellen. Die Folge war, dass selbst diese DJs ab ca. 2015 ebenfalls eine enorme Popularität (ähnlich der enormen Popularität der ersten Sensualtänzern) erlangten und jedes Wochenende auf anderen Kongressen auflegten..
Die populärsten DJs sind da sicher DJs wie Tronky, Khalid, Soltirx, Manuel Citro, DJ J York und viele andere. Ihr Ansatz ist bekannte, oft angelsächsische Chartmusik, die die meisten Amerikaner und Europäer aus dem Radio kennen, mit Computer-Bachatabeats zu remixen.
Gerade diese Remixe wurden nun von den Sensualtänzern bevorzugt, da sie oft langsamer sind und so mehr Zeit für die komplexeren Figuren des Bachata Sensual lassen. Eine Freundin meinte mal mit spitzer Zunge: "Bachata Sensual ist einfach auch mehr "Drama"... und das braucht Zeit."
Dies alles ist meiner Meinung nach einer der wesentlichen Gründe für die Aufspaltung von traditionellem und neuem Bachata. Die Gräben scheinen mittlerweile unüberwindbar, vor allem in Lateinamerika.
Bachata - die Zukunft?
Obwohl es gegen Ende der 2010er Jahre so aussah, dass Bachata sehr an Popularität verlieren würde und vielleicht außerhalb Lateinamerikas ein ähnliches Schicksal wie der Merengue erfahren sollte, sieht nun am Ende dieses Jahrzehntes alles komplett anders aus. In der Popularität ist Bachata auf dem Höhepunkt. Es gibt viele Bands und sehr viele Tanzkurse. Es gibt mittlerweile reine Sensualpartys und manch einer sieht Bachata als populärer an als Salsa.
Der Trend ist in meinen Augen nach wie vor ungebrochen. Es entstehen immer mehr Sensual-Partys und immer mehr Festivals widmen sich ausschließlich dem Bachata. In allen von mir regelmäßig besuchten Clubs, gibt es seit einem Jahr auch nun reine Sensualpartys sowie Bachatanächte im Hauptraum (100% Bachata). Dort ist es oft voller als an gemischten oder reinen Salsatanzflächen. Fast 95% der Schnupperkurse in den Clubs sind zur Zeit Bachatakurse.
Die musikalische Gegenbewegung zu den Remixen und dem modernen Sound kam interessanterweise von Romeo Santos selbst, als er im April 2019 eine neue CD rausgebrachte, welche wieder viel traditioneller ist und auch vielen der älteren traditionellen Sänger der 90er Jahre wieder ein Podium bietet. "Back to the roots" lautet hier das Motto. Vermutlich trifft er damit den aktuellen Nerv genau, da viele mittlerweile von Clubsounds und den z.T. überproduzierten Remixen und oft auch englisch gesungenen Stücken genug haben. Wobei die Klickzahlen bei Youtube lange nicht so hoch sind, wie bei den etwas älteren Stücken.
Bachata Sensual und dominikanischer Bachata laufen in der Regel zusammen auf vielen Partys und man kann getrost vom Trend des Jahrzehnts sprechen.
(Aktuelle Bachata-Playlists poste ich auch im Abstand von ca. 6 Monaten immer mal wieder in meinem Blog.)
Den meisten Tänzern ist dabei auch nicht so wichtig, ob gerade ein traditioneller oder moderner Bachata läuft. Jeder tanzt zur Musik und im Grunde ist es gar nicht so wichtig, von wann ein Stück ist. Die Lieblingslieder laufen vermutlich eh, wenn nicht, dann spätestens im Auto bei der Rückfahrt. Gerade die Jüngeren, können die Musik sowieso nicht genau historisch verorten. Hauptsache es läuft Bachata und es wird getanzt.
Übersicht, über alle Teile dieser Reihe:
Teil 1: Die musikalische Entwicklung des Bachata I: Die Anfänge (1960 - 1990)
Teil 2: Die musikalische Entwicklung des Bachata II: Das Genre etabliert sich (1990-2010)
Teil 3: Die musikalische Entwicklung des Bachata III - Der Trend des Jahrzehnts (2010-2020)