Olivetti Schreibmaschine (1950-1966)In der „Zeit“ wurde am 3.8.2019 ein Artikel zum Thema Rollenverständnis des Tanzens publiziert. Der Titel "Er führt, sie folgt". Die ersten zwei Zeilen sagen uns „Jeder Paartanz ist eine soziale Pirouette zurück ins 19. Jahrhundert. Tanzen sollte sich ändern. Es braucht da nur einen kleinen Dreh.“

Der Artikel startet mit einer Nacht in einem Latin-Club an der spanischen Costa Blanca und erzählt von einer Tänzerin, die den Autor Tobias Landwehr führt, weil er es nicht hinbekommt. Schon hier beginnt der große Widerspruch: eine Frau führt ja hier einen Mann, dann im Folgenden wird aber herausarbeitet, dass vor allem die Frauen sich beim Tanzen ja nur führen lassen dürfen und so ihre Rolle fest zementiert sei. Tobias, wenn Sie wüssten, was wirklich los ist… ;-)

 

Das Wirrwar des Artikels

Doch beginnen wir am Anfang: Der Artikel bezieht sich auf Paartänze und der Autor schickt gleich vorweg, dass er sich gar nicht auskennt. Warum er dann einen Artikel schreibt, in dem aber vieles altbackenes an Vorurteilen und Klischees wiederholt wird und dazu auch noch sehr verschiedene Tänze (bis hin zu hier so genannten "orientalischen Tänzen") in einen Topf geworfen werden, verstehe ich dabei nicht. Da kenne ich mich nicht aus.

Der Artikel unterschiedet auch nicht zwischen den in Deutschland populären Tanzsportvereinen und Standard- sowie Lateinschulen, wo man (oft aus Tradition schon mit 14 Jahren) die typischen Gesellschaftstänze lernt, die man dann aber, außer auf dem Tanzsportklubball und auf Turnieren, so gut wie nie tanzt und der seit 20 Jahren populären nichtorganisierten Salsa- und Bachtataszene. Frauenschritte und Männerschritte dann auch noch plump mit Führung und Folgen gleichzustellen, ist dabei der gedankliche Kernfehler des Autors. Doch dazu am Ende mehr.

Für andere Tänze möchte und kann ich mich übrigens nicht äußern, da fehlt mir schlicht das Wissen (z.B. beim angesprochenen Tango).

 

Die tatsächliche Lage in der Latinszene

Alter Schwede, ich weiß ja nicht, in welcher Zeit der Autor lebt und woher er seine Beobachtungen hat, aber in der Latinszene ist das doch schon seit vielen Jahren nicht mehr so, dass Frauen nur mit Männern in der "Folgerolle" tanzen - und zwar europaweit (annähernd sogar weltweit)!
Frauen tanzen mit Frauen, Männer mit Männern und Frauen mit Männern. Frauen folgen & führen und Männer ebenso! All das gibt es und zwar, ohne das einer besonders daran Anteil nimmt oder es seltsam findet (siehe auch das Video am Ende des Artikels). Am Anfang des Tanzes reichen oft wenige Worte und der Tanz ist ausgehandelt, ebenso, ob man auf 1 oder 2 tanzt.

Frauen die geführt werden, trainieren (genau wie Männer) oft jahrelang, um die Tänze zu selbst (und ohne Führung) zu lernen, zu erweitern, zu interpretieren, ihre Musicality anzuwenden und vor allem so durch ihr Können den Tanz zu genießen. Dazu brauchen sie erstmal keinen Partner und keine Partnerin. Die Anwendung, Nachts in Clubs (dann oft mit Partner/Partnerin) ist ein permanent begleitender Vorgang, nur so wird man besser und kontrolliert das Gelernte hinsichtlich seiner Anwendbarkeit. Von einer passiven Rolle ist hier also schon Mal keine Rede.
Denn es vereint alle, Männer, wie Frauen: der Spaß an der Bewegung zur Musik, an der Technik, den eigenen Körper zu erfahren, an der Interpretation und an der nonverbalen Kommunikation.

Natürlich tanzen mehr führende Männer mit (von außen scheinbar nur) folgenden Frauen, aber erstens ist das so vereinbart, wer das gerade nicht mag, sucht sich eben einen anderen Tanzpartner für die nächsten 5 Minuten und zweitens ist die Realität komplexer (auch in Tanzkursen, und da stimmen mir mit Sicherheit viele Männer zu), dass auch die Frau immer mit führt. Der Anteil ist sicher variabel, aber ein Tänzer, der nicht auf seine Partnerin eingeht und ihr Freiraum gibt, ist kein guter!
Genauso „kapern“ Frauen den Tanz (der so genannte Hijacking), falls es ihnen mal zu langweilig wird oder der Mann ihnen nicht den gewünschten Raum gibt.

Auch bei den angesprochenen Tanzkursen gibt es seit Jahren ein buntes und diverses Durcheinander, was die Szene seit über zehn Jahren sehr bereichert. Frauen, die als Mann unterrichten und Lehrer/Lehrerinnen, die mehrfach in einer Unterrichtsstunde die Rolle wechseln.
Es gibt immer Frauen, die dabei konsequent erst einmal nur Männerschritte lernen und Männer, die erst einmal nur Frauenschritte lernen. Dabei haben alle vier Variationen ihren Reiz und dies mit Führung und Folgen gleichzustellen ist, ist gelinde gesagt eine zu große Vereinfachung, die  Tobias Landwehr hier begeht.

Mein Artikel dazu „Salsa kennt keine Grenzen und wenig Vorurteile - ein Widerspruch zur momentanen Gesellschaft?“ von vor über einem Jahr hat das schon damals thematisiert.

Noch eine persönliche Anmerkung. Auch ich tanze als Mann gelegentlich die Followrolle, also klassisch „als Frau“, da ich bereits vor 18 Jahren es mitgelernt habe und einfach Spaß an der Bewegung habe. Sonst wäre auch ein Unterrichten nicht möglich, da Tanzkurse im Grunde immer gemischt sind.
Ich behaupte einfach mal frech, jeder gute Tänzer und jeder Tanzlehrer beherrscht zumindest ausgiebige Grundkenntnisse beider Rollen, in sehr vielen Fällen beide Rollen, inklusive der Schritte und des Stylings.

 

Fazit

Der Artikel des von mir sonst sehr geschätzten Tobias Landwehr stellt Forderungen auf, die im Grunde seit gut 10-20 Jahren Schnee von gestern sind. Sicher, vieles wird sich weiter ändern. Wo ich zustimme ist die Aussage, "Bewegung an sich hat kein Geschlecht", aber auch diese ist sehr pauschal und bildet nicht im Geringsten die Komplexität ab.
Keine Tanzszene ist so im Fluss wie die Latinoszene, aber sie war schon immer bunt, multikulturell und offen.

Frauen führen, Männer folgen

Um den Autor etwas zu versöhnen, hier noch ein Video, welches ich vor ca. 5 Wochen aufgenommen habe, es zeigt Lydia Garcia wie sie als Mann mit Jose tanzt, der die Frauenrolle einnimmt - alles bei einem romantischen Bachata... und achtet mal auf den empörten Aufruhr der Umgebung, er findet nicht statt, es ist ganz normal, es interessiert niemanden! ;-)

 

So, nun bin ich gespannt auf Eure Meinungen. Viel Spaß beim Kommentieren!

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